Nietzsche in Turin
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Sein Leben und Denken lässt sich exakt in ein Davor und ein Danach teilen. Am 3. Januar 1889 sah Nietzsche in Turin, wie ein Kutscher sein Pferd schlug, eilte hinzu, umarmte es voller Mitleid, umschlang seinen Hals – und brach zusammen. Danach war nichts mehr, wie es war. Aber wieso Turin?
Wie heiß war der vorige Sommer in Sils gewesen. Diesmal zog es ihn nicht ans Meer, nicht nach Genua oder Nizza. Die Erlösung für Hirn und Auge wusste er anderwärts: Turin. Warum hatte er es nicht eher gefunden? Diese Stadt war im April ein einziger Blütenkelch voll guter Laune gewesen, er hatte trotz des Karossengerassels einen elysischen Schlaf genossen. Nirgends war er je mit so viel Freiheit herumgegangen wie in diesen blütenüberschütteten Alleen, im Halbschatten der aristokratisch ruhigen Arkaden und in den Promenaden am Po mit wechselnden Blicken über grünende Inselchen in die reiche, bunte, malerische, von Wipfeln überquellende Hügelwelt der Gärten und in die ferne, reine, in ihrer Klarheit dennoch übernahe Schneewildnis des Hochgebirges. Die Stadt, für die Füße wie für die Augen klassisch, würdig und ernst, großartig, nicht großstädtisch, ohne das prätentiöse Durcheinander widerstreitender Epochen durchweg in einem fürstlichen Geschmack erbaut, sich überall selbst entsprechend bis in die Farbe, gelb bis rötlichbraun, hatte mit ihrem angenehmen, dem Kurzsichtigen nicht mit Stolperkanten auflauernden Pflaster und ihrer Größe und Großartigkeit die angenehmste Gefangenschaft über ihn beschlossen, ihn bestrickt mit einem Fluidum, das immer schon das seine gewesen war. Mit dem Turiner Wetter ließ sich leicht fertig werden, sogar bei trübem Himmel. Mehr Sonnentage als Nizza! Die reizend leichte, leichtfertige, stets lichterfüllte Luft verlieh schwerfälligsten Gedanken Flügel. Sie hatte ihn, trocken und anregend, wie er sie brauchte, in einen Arbeitsrausch versetzt, manchmal bei offenem Fenster bis tief in die von Lauten der Lebenslust durchtanzte Nacht. Jedes Gesicht war ihm irgendwie liebenswürdig vorgekommen, keine Spur Vorteilsucht oder Betrug, nur Sympathie, die Sympathie erwidert, vor allem bei jungen Leuten und älteren Junggesellen, höheren Schülern und Offizieren, in Trattorien wie in luxuriösen Cafés ein unglaubliches Entgegenkommen, auch bei den Preisen, abends im Lichterglanz Musik ohne Aufpreis, hübsch, frivol und simpel und doch voll Noblesse, wie es sich für eine Residenz gehörte. Eine kapitale Entdeckung, dieses Turin. Der erste Ort, an dem er möglich war.
Format:
Language:
German