Lebens-Ansichten des Kater Murr - E.T.A. Hoffmann
Om bogen
Als E.T.A. Hoffmann im Frühsommer 1819 mit der Niederschrift der "Lebens-Ansichten des Kater Murr" beginnt, entschließt er sich, die Figur seines berühmten Kapellmeisters Johannes Kreisler literarisch noch einmal wiederauferstehen zu lassen.
Geschickt verwebt er nun Lebensepisoden Kreislers und der Titelgestalt Kater Murr, Hoffmann hatte sich 1818 tatsächlich einen Kater mit Namen Murr gekauft, zu einer humorvollen, aber in erster Linie bissig-sarkastischen Bestandsaufnahme eines an der Publikumsignoranz zerbrechenden Künstlers, dem in der Katze die Reinkarnation der romantischen Philistergestalt schlechthin gegenübersteht.
Hoffmanns skurrile Phantasie entwirft eine vermenschlichte Lebenssphäre Murrs bei Meister Abraham, der ihm Logis gibt und gleichzeitig der Freund Kreislers ist; zu dieser Welt gehören unter anderem Murrs große Liebe, die Katze Miesmies, und der Pudel Ponto, Inbegriff der Schmeichelei und Heuchelei, Charaktereigenschaften, auf die der Kater auch in einer Katzenburschenschaft trifft, in der er schließlich Mitglied wird. Murrs Lebenseinstellung ist geprägt von Sorglosigkeit und der Nicht-Existenz künstlerischer Selbstzweifel sowie einer Tendenz zur einfältigen Täuschung seiner Umwelt, was ihn zum völligen Gegenentwurf Johannes Kreislers werden läßt.
Der unvollständige, eingeworfene Charakter der Kreislerschen Kapitel ist auch formaler Ausdruck einer nur als fragmentarisch empfundenen, zerrissenen Musikerbiographie, die bei genauerem Betrachten jedoch quantitativ den größeren Teil der "Lebens–Ansichten" ausmacht und damit Hoffmanns wahre Intention und eigentliche Hauptfigur offenbart. Das Leben des Kapellmeisters spielt sich in einer zu klein geratenen höfischen Umgebung ab, aus der es durch wirtschaftliche Abhängigkeit, unglückliche Liebe und Scheitern an den eigenen Ansprüchen keinen realen Ausweg gibt. Schon Kreislers Analyse seines Namens spielt auf den nie endenden Teufelskreis eines hoffnungslosen Künstlerlebens ohne Perspektive an: "Sie können nicht wegkommen von dem Worte Kreis, und der Himmel gebe, dass Sie denn gleich an die wunderbaren Kreise denken mögen, in denen sich unser ganzes Sein bewegt, und aus denen wir nicht herauskommen können, wir mögen es anstellen wie wir wollen. In diesen Kreisen kreiselt sich der Kreisler, und wohl mag es sein, dass er oft, ermüdet von den Sprüngen des St. Veits-Tanzes, zu dem er gezwungen, rechtend mit der dunklen unerforschlichen Macht, die jene Kreise umschrieb, sich … hinaussehnt ins Freie."
Meisterhaft wechselt Hoffmann zwischen den beiden Lebens-läufen dieses satirischen Künstlerromans in zwei Bänden hin und her. Ein projektierter dritter Band kommt nicht mehr zustande, nachdem der wirkliche Kater Murr Ende 1821 stirbt. E.T.A. Hoffmann setzte auch ihm in Form einer Traueranzeige, die er an enge Freunde verschickte, ein Denkmal: "In der Nacht vom 29. bis zum 30. November d. J. entschlief, um zu einem bessern Dasein zu erwachen, mein teurer geliebter Zögling, der Kater Murr, im vierten Jahre seines hoffnungsvollen Lebens. Wer den verewigten Jüngling kannte, wer ihn wandeln sah auf der Bahn der Tugend und des Rechts, mißt meinen Schmerz und ehrt ihn mit Schweigen."
Gelesen von Wolfram Berger [Schauspieler, Sänger, Regisseur, Kabarettist, Wortjongleur]
Wolfram Berger hat als Machiavelli in der Cabaret-Oper »Der Kastanienball« [Music Edition Winter & Winter, CD Nº 910 107-2] mitgewirkt und bereits das Hörbuch »Verdi – Roman der Oper« von Franz Werfel [ISBN 978-3-86790-005-8] aufgenommen.