Schattenwürfe
Buchbeschreibung
1992 feierten wir den Nikolaustag bei Konstantin und seiner Freundin Kerstin
in ihrem Haus in Grünwald. Der Keller des Hauses war ein einziger Partyraum,
wie geschaffen für ständige, nicht enden wollende Festivitäten. Man war dort
abgeschirmt und abgeschnitten von allem, was draußen das Leben bestimmte,
von Arbeit, Regelmaß und Bürgerlichkeit. Wir blieben dort Tage und Nächte
ununterbrochen, bald wussten wir nicht mehr, was draußen für ein Wetter, für
ein Datum war, der Partykeller mit der Bar „Zum Uferlosen“ wurde zum Luftschutzkeller,
der uns feite gegen die Einschläge der Welt außerhalb.
In diesem Jahr gab es in der Münchner Innenstadt zum ersten Mal eine Lichterkette, die sich gegen die grassierende Fremdenfeindlichkeit richtete. Zum Wiederaufwärmen und zur Nikolausfeier fuhren wir danach in den Grünwalder Keller. Ich hatte für jeden Anwesenden ein Sprüchlein gereimt, das ich dem Nikolaus, gespielt vom Nachbarn, in seinen breiten bayerischen Mund legen wollte. Kurz vor Beginn der Feierlichkeiten erfuhr ich, dass sich ein neuer Freund Konstantins, ein wahrer Stargast, angekündigt hatte. Dringend musste ich noch ein Verslein dichten. Unmöglich, dass dieser auch von mir hochgeschätzte Gast spruchlos blieb. Ich zog mich in die gottlob kalte Sauna zurück und kaute am Bleistift. Ich schwitzte etwas aus, was ungefähr so begann: „Ein großer Mann ist heute angekommen...“ Der bayerische Nikolaus brabbelte schwer verständlich, der Ehrengast lächelte verlegen. Der große Mann war Herbert Rosendorfer. Rosendorfer, bis zu seinem Tod mit Konstantin gut befreundet, schrieb 2012 das wunderbar einfühlsame und – unter Kollegen – bemerkenswert neidlose Vorwort zu dem Gedichtband „Jeder Augenblick ist ewig“. Oft auf dem Weg nach Italien besuchten Konstantin und Annik ihn und seine Frau Julia an ihrem Wohnsitz unweit von Bozen. Herbert kam zu Konzerten, veranstaltete sogar selbst eins in einer Weinkellerei in Südtirol. Sagenhaft war sein Wissen, seine Bildung nicht nur in Musik – er komponierte sogar selbst – Kunst, Literatur, Architektur, Geschichte, sondern auch auf entlegenen Gebieten wie der Ekklesiastik – vor allem die profunde Kenntnis aller Kirchen Roms –, der Genealogie – niemand kannte die infinitesimalen Verästelungen von Adelsgeschlechtern bis ins Mittelalter so gut wie er -, der Jurisprudenz - denn schließlich war er zu allem anderen auch Richter. Er brachte es fertig, erfundene Dichter und Geisteswissenschaftler in seine Romane hineinzukomponieren, die so echt wirkten, dass
man unweigerlich zum Lexikon griff, um Näheres über sie zu erfahren. Seine Phantasie war unerschöpflich. Ich hatte mich so sehr auf seine pünktlich im Jahresrhythmus erscheinenden Werke gewöhnt, dass ich bei seinem Tod schockiert aus einem Leserausch erwachte. Zum Glück besitzen seine Kinder noch einen wohlgefüllten Nachlass.
Text von Günter Bauch